Die Katze im Sack – Für eine freiwillige Studierendenvertretung
Der Semesterbeitrag an der Uni Mainz beläuft sich mittlerweile auf 281,03 €. Für viele eine Menge Geld. Die Mitgliedschaft in der Verfassten Studierendenschaft ist genauso verpflichtend wie die Zahlung des Beitrages. Muss das so sein? Es gibt gute Gründe, die Zwangsmitgliedschaft in Frage zu stellen und das System zu reformieren!
Aber die Solidarität…
Solidarität unter Studierenden gibt es nicht erst seit der Erfindung der Verfassten Studierendenschaft. Schon damals wurden Studentenverbindungen gegründet, um sich gegenseitig zu helfen, die Kosten für den Lebensunterhalt gerecht zu verteilen und auch weniger gut betuchten Studenten die Möglichkeit eines Studiums zu eröffnen. Freiwillige Solidarität ist eine gute Sache und sorgt für Chancengerechtigkeit. Sie ist eine der Grundlagen unseres Gemeinwesens; ohne sie gäbe es keine Kirchen, Vereine und karitative Organisationen.
Erzwungene Solidarität dagegen ist keine Solidarität, sondern Zwang. Auf diesem Zwang basiert das Prinzip der Verfassten Studierendenschaft in Rheinland-Pfalz: Nur wer darin Mitglied ist, darf an der Universität studieren und kann den angestrebten Abschluss erreichen. Wer seine Beiträge nicht zahlt, fliegt aus seinem Studium raus – und zwar sofort. Zugegeben, kaum ein Student denkt beim Zahlen des Semesterbeitrages an staatliche Unterdrückung. Aber staatlicher Zwang erscheint nicht nur in Form von Gewehren und Wasserwerfern, sondern auch in Form einer Zwangsexmatrikulation. Zwang liegt immer dann vor, wenn ich keine Möglichkeit habe, mich zu entziehen. Was pathetisch klingt, ist nichts anderes als konsequente Prinzipienethik: Wenn Menschen in ein Solidarsystem gezwungen werden, muss das immer kritisch hinterfragt werden – auch wenn damit wohlklingende Ziele verfolgt werden.
Das Semesterticket wird von allen Studierenden bezahlt. Etwa 185 € vom Semesterbeitrag werden darauf verwendet. Dafür kann dann jeder in einem großen Gültigkeitsbereich die öffentlichen Verkehrsmittel benutzen. Tatsächlich ist das auch sehr viel günstiger, als wenn man als Einzelner Monats- oder Jahreskarten für die angeschlossenen Tarifgebiete kaufen müsste. Dieses Argument spricht für eine Verfasste Studierendenschaft, die im Namen aller Mitglieder mit den Verkehrsverbünden verhandelt und so bessere Ticketpreise erzielen kann. Es spricht aber nicht unbedingt für die Pflichtmitgliedschaft.
Das jetzige System benachteiligt nämlich diejenigen, die das Ticket gar nicht brauchen. Wer in der Mainzer Innenstadt wohnt, mit dem Fahrrad zur Uni fährt oder seine Wohnung gar nicht im Einzugsbereich des Semestertickets hat, zahlt pro Jahr mehr als 370 €, ohne dafür eine echte Gegenleistung zu erhalten. Wer mit dem Auto fährt, zahlt zusätzlich noch Sprit und Versicherung. Das Semesterticket kann nicht abbestellt werden. Ist das gerecht?
Auch die sonstigen Leistungen, die im Semesterbeitrag zusammengefasst werden, muss man bezahlen, ob man sie in Anspruch nehmen möchte oder nicht. Knapp 80 € gehen an das Studierendenwerk, das Mensen und Wohnheime betreibt. Wer nicht im Wohnheim lebt oder das Essen in der Mensa schlecht findet, zahlt nur für die anderen mit. 13 € erhält der AStA und finanziert davon neben vielen anderen Dingen Kulturveranstaltungen, Partys, Freizeit- und Beratungsangebote. Alles keine schlechten Sachen, aber wer das gar nicht will? Hat keine Wahl. Wer sich darüber beschwert? Gilt als „unsolidarisch“.
Aber die Demokratie…
Leidet die studentische Mitbestimmung unter einer freiwilligen Mitgliedschaft? Stellen wir uns vor, man könnte aus der Studierendenschaft austreten. Wer sich beteiligen will, wird Mitglied der Studierendenschaft bleiben. Wer nicht interessiert ist und auch die Leistungen des AStA und des Studierendenwerkes nicht beziehen möchte, wird austreten.
Schon heute gehen zu den Senats- und StuPa-Wahlen kaum mehr als 12% der Studierenden. Obwohl jeder einzelne jedes Semester viel Geld für studentische Gremienarbeit bezahlt, möchte nicht einmal jeder Achte mitentscheiden, was damit passiert. Das kann viele Gründe haben. Manchen ist es egal, wer am Hebel sitzt. Einige glauben nicht daran, dass sich durch andere Mehrheitsverhältnisse in den Gremien irgendetwas an ihrer persönlichen Situation ändert. Nichtwählen kann auch ein Akt des Protests sein. Und viele sind auch sicher genervt vom aufdringlichen Wahlkampf um immer weniger Stimmen.
In jedem Fall stellt sich für die Organe der Verfassten Studierendenschaft bei einer so geringen Wahlbeteiligung die Legitimationsfrage. Vor allem aber muss man fragen, ob das Wahlrecht in einem Körperschaft mit Pflichtmitgliedschaft nicht nur ein Ersatz für die mangelnde Wahlfreiheit der Studierenden ist: Bezahlen musst du das ganze sowieso, dann mach‘ doch wenigstens einmal im Jahr dein Kreuz!
Auch heute schon hat der AStA der Uni Mainz keine 36.000 Studierenden im Rücken, wenn er mit Verkehrsbetrieben, der Universität oder dem Studierendenwerk verhandelt. Er vertritt eine Minderheit, die mitbestimmen will. Die wahre Legitimationsbasis für das politische Handeln der VS-Organe wird durch die Möglichkeit des freiwilligen Austritts nicht geringer. Zu den öffentlichen StuPa-Sitzungen werden immer noch genauso viele Studierende gehen (nämlich kaum jemand), bei Wahlen werden vermutlich immer noch genauso viele ihr Kreuz machen (nämlich die Minderheit). Und die Verhandlungspartner des AStA werden immer noch genauso beeindruckt oder unbeeindruckt von der Verhandlungsposition seiner Vertreter sein.
Für viele engagierte Studierende in der Hochschulpolitik ist eine geringe Wahlbeteiligung und das dadurch zum Ausdruck kommende Desinteresse in erster Linie ein Signal dafür, dass der AStA mehr politische Bildung betreiben muss, um Interesse und Engagement von Wahl-Muffeln zu fördern. Das klingt zunächst logisch. Dahinter verbirgt sich aber die Idee, dass uninteressierte Studierende noch erzogen werden müssten, sie erst lernen müssen, wie man sich als guter Staatsbürger in die Demokratie einbringt. Dabei wird gerne vergessen, dass Studierende erwachsene Menschen sind, die ihre eigenen Entscheidungen treffen. Und auch wenn diese Entscheidungen aus der Sicht von politisch interessierten Menschen uninformiert, unreflektiert oder egoistisch wirken, sollte man doch nie den Respekt vor dem Willen eines Menschen verlieren und ihm nicht die Kompetenz absprechen, eine Meinung zu hochschulpolitischen Themen zu haben – oder eben nicht.
Vielleicht haben auch manche einfach keine Lust mehr, zweimal im Jahr für mittlerweile 280 € die Katze im Sack zu kaufen. Um im Gegenzug dann ein paar Leute auf Listen wählen zu dürfen, die über die Farbe der Katze entscheiden. Ob man diese Einstellung gut findet, muss jeder für sich entscheiden. Als Studierendenvertreter sollte man die Verantwortung dafür aber nicht bei den faulen Studierenden oder in der verkommenen Gesellschaft suchen, sondern zunächst im eigenen System. Wenn die Katze so gut ist, wie viele behaupten, werden auch in Zukunft viele eine haben wollen.
Aber die Kosten…
Ein Austrittsrecht löst nicht alle Probleme. Vor allem wird nicht alles für jeden besser. Finanziell entlastet würden die Studierenden, die bisher die Leistungen von AStA und Studierendenwerk, insbesondere das Semesterticket, kaum nutzen. Die kleiner werdende Studierendenschaft hätte weniger Geld als vorher und könnte möglicherweise bei Verhandlungen über das Semesterticket nicht mehr denselben „Mengenrabatt“ aushandeln. Außerdem gäbe es weniger Sicherheit darüber, wie viele Studierende Beiträge zahlen, die Anzahl würde von Semester zu Semester variieren. Möglicherweise könnte man den Semesterticketbereich nicht ständig erweitern. Es lohnt sich trotzdem, darüber nachzudenken, wie man den Studierenden mehr Wahlfreiheit einräumen kann. Etwa durch ein flexibleres Semesterticket mit einem Kernbereich und Außenbereichen, die dazu gebucht werden können. Nur weil solche Ideen in der Vergangenheit schnell verworfen wurden, heißt das nicht, dass keine Möglichkeiten für Verbesserungen bestehen. In den Verhandlungen mit den Verkehrsverbünden lassen sich sicher auch andere Ergebnisse erzielen, wenn das Nichtzustandekommen des Vertrages eine echte Option ist, mit der man drohen kann. Wenn das Semesterticket freiwillig gekauft werden kann, sinkt auch der Druck für den AStA, 36.000 Studierende versorgen zu müssen. Bisher können sich MVG, DB und andere darauf verlassen, dass der AStA die Verhandlungen auf keinen Fall scheitern lassen wird. Eine echte Machtposition entsteht dadurch trotz Millionenbudget nicht.
Erzwungene Solidarität und erzwungene Mitbestimmung sind an sich schon nicht viel wert, weil sie die Freiheit der Studierenden untergraben. Wird dieses System dadurch besser, dass manche davon profitieren und Geld sparen? Für viele mag das eine ausreichende Rechtfertigung sein. In Stein gemeißelt ist die Pflichtmitgliedschaft aber nicht – in Sachsen können Studierende nach einem Semester aus der Verfassten Studierendenschaft austreten.